“Saudade” nach den Lieblings-Sitznachbarn
14. 04. 2021
Wenn Portugiesen von “saudade” sprechen, meinen sie damit ein Gefühl der Wehmut.
14. 04. 2021
Wenn Portugiesen von “saudade” sprechen, meinen sie damit ein Gefühl der Wehmut.
Es ist das Gefühl, dass etwas wertvolles fehlt. Saudade entsteht auf Zugreisen zum Beispiel dann, wenn der verrückte Sitznachbar mit der schillernden Glurak Pokemon-Karte in Attnang-Puchheim plötzlich aussteigt ohne die Karte tauschen zu wollen!
Mittlerweile stecken wir im zweiten Covid-Jahr und fühlen “saudade” nach so einigem...
Im Grunde vermissen wir fast jede Form der menschlichen Nähe – außer vielleicht die Nähe in einer überhitzten Après-Schihütte, wenn wir gemeinsam mit 100 Fremden Schnaps aus einem Stiefel trinken!
Dafür vermissen wir umso mehr unsere liebsten SitznachbarInnen im Railjet auf der Weststrecke. Klar – am Anfang fanden wir die neuen Corona-Bestimmungen ganz angenehm – immer viel Platz, immer einen freien Nebensitz. Aber im Grunde ist der Mensch ein soziales Tier. Was wären wir schließlich ohne den Tiroler Bücherwurm der uns im Inntal Aristoteles auf Altgriechisch nahe bringt? Wir wären ungebildet! Was wären wir ohne die oberösterreichische Oma, die uns bei Salzburg von ihrem Kuchen naschen lässt? Wir wären hungrig! Was wären wir ohne den Bayern, der uns im deutschen Eck seine Kopfhörer ausleiht, damit wir “Rammstein live 1996” erleben können? ...Naja, vielleicht fehlt uns nicht jede Begegnung, aber die allermeisten dieser Alltagsbekanntschaften vermissen wir im Jahr 2 der Isolation.
Jeder kennt ihn, den Bücherwurm. Er sitzt immer in Fahrtrichtung (sonst wird ihm schlecht, wer kann schon “rückwärts” lesen?). Während wir schon vor 5 Jahren auf Tablet und Kindle umgestiegen sind, bleibt er traditionsbewusst (digital lesen ist einfach nicht dasselbe). Egal wie lang oder kurz die Zugfahrt auch sein mag, ein Buch ist ihm nie genug, es müssen immer mindestens zwei mitgeschleppt werden.
Wer Glück hat, der erwischt den Bücherwurm manchmal auch in Redelaune. Austauschen kann man sich mit ihm über das zuvor Gelesene oder Klassiker der Literatur. Von Austin, Orwell, bis hin zu Kafka oder Schirach. Jedenfalls kann er einem für die Dauer der Fahrt eines dieser Werke ausleihen (und das ist wirklich ein Glück, denn Dostojewski als Hardcover selbst schleppen möchte niemand).
Sie sitzt immer am Vierertisch, wo auch sonst, denn die Studi ist jung, sie möchte Kontakte knüpfen. Die Studi ist die Sitznachbarin über die man am meisten erfahren kann, schon bevor man mit ihr spricht. Handelt es sich um eine gut organisierte Studi, mit ordentlich sortierten Mappen und sauber unterstrichenen Skripten?
Oder eine Chaos-Studi, die zerknüllte lose Blätter aus allen Jackentaschen zieht? Schreibt sie mehr als sie aus dem Fenster blickt? Die Studi ist chronisch knapp bei Kasse, wenn man sie also ins Bordrestaurant auf einen Kaffee einlädt, gewinnt man schnell eine treue Begleiterin, die gerne auch mal ein Ladegerät ausleiht oder eine “freshe” Playlist shared.
Rastalocke, Ukulele, riesiger Rucksack und kurze Cargo Hose – der Weltenbummler ist an Bord. Der Weltenbummler ist der perfekte Sitznachbar, wenn man sich ausführlich über “Gott und die Welt” austauschen möchte (Disclaimer: falls man darauf überhaupt keine Lust hat, sollte man evtl. vorsichtshalber auf den Platz neben dem Bücherwurm wechseln).
Der Weltenbummler hat viel gesehen, kann von spannenden Abenteuern berichten, er hat aber auch eine starke Meinung zu Politik, Ernährung und Lebensführung im Allgemeinen. Wer im Debattierclub zu den besten gehört hat, kann in ihm seinen Meister finden.
Niemand backt bessere Kekse als der Keksprofi, der neben dir im Zug oder Bus Platz nimmt. Achtung: meistens fährt der Keksprofi nur eine oder zwei Stationen weit. Selten begibt er sich auf längere Reisen. Wenn der Duft der Kekse also den Waggon erfüllt, dann heißt es schnell sein. Nach Butterkeks, Chocolate Cookie oder Spitzbub zu fragen gilt dabei als unhöflich.
Wenn überhaupt, dann muss der Keksprofi seine Kekse von sich aus anbieten. Aber keine Sorge: das tut er fast immer sofort, sobald man beispielsweise nach dem Grund der Reise fragt und ein wenig von seiner eigenen Reise erzählt.
Manchmal will man im Zug einfach nur die Augen schließen und entspannen. Das monotone Rattern der Gleise und die gelegentlichen Durchsagen von Chris Lohner wiegen die allermeisten von uns sanft ins Nickerchen. Wenn das alles nicht hilft, hilft evtl. die perfekte “Ambient Playlist”. Doch woher soll man die nehmen?
Mit etwas Glück sitzt in der Nähe ein Music Geek (man erkennt sie an den überdimensionalen Kopfhörern). Sie hat für jeden Anlass die perfekte Playlist dabei. Wegen der höheren Audioqualität auch nicht nur als Stream, sondern als “WAV. Files”. Mit Hilfe von Bluetooth kann man sich ihre Songs also selbst im Tunnel auf das eigene Handy holen.